Der Streich des Loki

.... An dieser Stelle finde ich die Erklärungsbilder der germanischen Völker passend, denn sie leben fort in den alpenländischen Bräuchen rund um diese winterlichen Tage und Nächte.

Einem der vielen Sonnwend-Mythen zufolge verfolgt die Wilde Jagd den Hirschen, der die Sonne durch die Unterwelt trägt und deshalb lange Nächte verursacht. Der Sonnenhirsch wird von Odin und seinem Gefolge der Toten Seelen, Walküren, Berserker und Einherjer (im Kampf gefallene Krieger) sowie einer Hundemeute als Vorhut und Pferden, Raben, Wölfen, Hasen und Wildschweinen als Nachhut, aus der Unterwelt in den Himmel hinein getrieben. Diese Vorstellung, dass die Sonne in Hels Reich verborgen ist, hat vielleicht ihren Ursprung in einer uralten Deutung des Wandels vom Tag zur Nacht:  Der  allnächtlichen Überfahrt der Sonne von West nach Ost, während der sie verschwindet. Der Abstieg in die Unterwelt ist ein Motiv, das sich in vielen Mythen wiederfindet, einer der berühmtesten erzählt von Tod und Wiedergeburt der sumerischen Inanna bei ihrer Schwester Ereschkigal.

Der Tod der Sonne ist nachzulesen in der Edda. Die im Buch daraus zitierten Textstellen entstammen der Übersetzung von Felix Genzmer. (Die germanische Götterwelt kennt Asen, Wanen, Riesen etc. mit komplizierten Beziehungen zueinander, kurze Erklärungen dazu finden sich im Glossar.) Berichtet wird vom tödlich wirksamen Streich des Loki, ein Ase, obwohl Sohn von Rieseneltern, mit dem Odin Blutsbrüderschaft geschlossen hat. Loki ist beständig zu schlechten Scherzen aufgelegt, mal der einen, mal der anderen Seite zugetan. Das überlieferte Geschehen im Götterreich bietet diese Erklärung: Balder, der Sohn Odins und der Frigg war der Gott des Lichtes, der junge, strahlende, er verkörperte die Sonne. Seine langen blonden Haare werden als Sonnenstrahlen gedeutet. Um sein von ihm selbst im Traum gesehenes Schicksal abzuwenden, verpflichtet seine Mutter alles Lebende und Leblose in Walhall, ihm kein Leid anzutun. Weil er dadruch unverletzbar wird, vergnügen sich die Götter damit, auf Balder mit Steinen und Pfeilen zu schießen. Doch der ränkeschmiedende Loki weiß, dass Frigg die Mistel für zu unbedeutend gehalten und als einzige nicht zum Schwur aufgefordert hatte. Er schummelt einen aus Mistelgrün geschnitzten Pfeil in den Köcher Hödurs, des blinden Bruders des scheinbar Unverwundbaren. Balder wird tödlich verletzt.

Vers 25 + 26 aus Völuspá, der Seherin Gesicht:

Ich sah Balder, dem blutenden Gott, Odins Sohne, Unheil bestimmt: ob der Ebne stand aufgewachsen der Zweig der Mistel, zart und schön.

Ihm ward der Zweig, der zart erschien, zum herben Harmpfeil: Hödur schoss ihn; und Frigg weinte in den Fensälen (Anm.: Wohnstatt Friggs) um Walhalls Weh – wisst ihr noch mehr?

Und im Lied über Balders Träume, Vers 9:

Hödur bringt her den hohen Ruhmspross;
er wird Balders Blut vergießen, das Alter enden Odins Sohne.

Auf einem Schiff wird er aufgebahrt, dieses wird von der Riesin Hyrrokin ins Meer gestoßen. Dabei fangen die Rollen, auf denen es bewegt wird Feuer, Schiff und Leichnam verbrennen.

Doch die Prophezeiung verspricht eine Rückkehr des Sonnengottes. Nach Ragnarök, dem Untergang des Göttergeschlechtes, steigt aus den Wassern des Ozeans eine neue Welt, in der frühere Feinde versöhnt leben.

Vers 44 aus Vǫluspá, der Seherin Gesicht:

Surt (Anm.: der Feuerriese)  zieht von Süden mit sengender Glut; von der Götter Schwert gleißt die Sonne. Riesinnen fallen, Felsen brechen; zur Hel (Anm.:  Göttin der Unterwelt, Tochter des Loki) ziehen Männer, der Himmel birst.

Und dann die neue Welt, im Vers 54 angedeutet, mit Balders Rückkehr:

Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser; Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen im Sieghof, froh, die Walgötter – wisst ihr noch mehr?

In der Erzählung vom Ende des leuchtenden Sohnes Odins wird anschaulich, welche Wirkung das Abnehmen und danach wieder Zunehmen der Stunden des Lichtes auf die Menschen hatte. Besonders im hohen Norden, wo im Winter oft gar kein Licht scheint, musste dies besonders bedrohlich gewirkt haben. In Island, dem Land, in dem die Edda aufgeschrieben wurde, gibt es im Jänner nur rund 3 Stunden Sonnenlicht täglich. (Woraus sich ebenfalls die Betonung auf RauNACHT ableiten ließe)

 

Die Wintersonnenwende erinnert also alljährlich an diese Auferstehung des Gottes, der sich gegen jedes Unrecht wendet. In der Zeit, in der es am finstersten ist, nährt uns diese Gewissheit, dass die Tage nun wieder länger werden, sie ist tröstliche Begleiterin. Ich selbst mache mir alljährlich nach den Feiertagen bewusst: Nun wird es wieder heller und das Frühjahr naht. So wird der kälteste und finsterste Monat erträglich. Gut vorstellbar, dass auch der Fasching, wie der Karneval bei uns in Österreich heißt, deshalb in dieser Jahreszeit angesiedelt ist. Das nächtliche Tanzen auf Bällen ist sehr stimmig, in lichtdurchfluteten Innenräumen können wir den Tag freudvoll verlängern, die Dunkelheit eine Zeit lang vergessen.

Das Bild des brennenden Schiffes auf dem Balders Leichnam verglüht, malt den Sonnenuntergang, der Vorgang selbst verweist selbstverständlich auf die Sommersonnenwende. Balders Frau Nanna stirbt vor Gram über den Tod des Gatten und wird mit ihm auf dem Schiff verbrannt. Sie war die Göttin der Blüten, das Ende des Frühlings wird durch ihren Feuertod (versengt von der Sonnenhitze) in Szene gesetzt. Nanna bedeutet schlichthin Frau und wurde im Lateinischen als Ehrentitel für Mann (nonno) ebenso wie Frau gebraucht. Im heutigen Italienisch sind Nonna und Nonno gebräuchlich für Oma und Opa.

In dieser fundamentalen mythischen Erzählung steckt natürlich noch viel mehr Wissen um die Entwicklung der Welt. Wie in fast allen großen Weltuntergangsmodellen ist von einem künftigen friedvollen Universum ohne Leid und Mangel die Rede. Auch Prophezeiungen der Neuzeit verkünden Ähnliches, und in regelmäßigen Abständen kursieren sie in esoterischen Zirkeln ebenso wie im Internet. Allerdings, wie uns Einstein gelehrt hat, ist Zeit relativ und Zeiträume aus kosmischer Perspektive stehen vermutlich in keinem Verhältnis zu unseren. Man kann es sich vorstellen als Vergleich der Zeitperspektive einer Eintagsfliege zu der eines Menschen. Oder wie im Märchen vom Hirtenjungen so bildhaft beschrieben: Ein König fragt den Jungen nach der Dauer einer Sekunde der Ewigkeit. Seine Antwort: Ein Vogel fliege alle 100 Jahre zu einem Berg, an dem er seinen Schnabel wetze. Wenn der Berg abgetragen sei, wäre die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei.

Da wir alle nicht wissen, wie lange der Vogel schon seinen Schnabel wetzt, dürfen wir uns beruhigt dem Jetzt widmen, denn der Weltuntergang kann morgen oder auch erst in Millionen Jahren kommen. Allerdings können wir zumindest die Zeit der Nächte zwischen den Zeiten dafür nützen, uns zu besinnen, um bereit zu sein für die Zeit des Wandels. Steht doch Balders Rückkehr gemäß der Archetypen-Lehre auch für die bewusstseinsweckende Funktion göttlicher Lichtgestalten. Gefeiert als sonnenbestimmter Jahreswendepunkt, entwickelte sich in diesem Zusammenhang allerlei Brauchtum.