Fortsetzung Master the Art

So zumindest dachte der eine von der anderen und die andere vom einen. Sie stütze seine Basis, die tief in den Berg hinabreichte, beide wurden umspielt von der Luft. Er hatte den Überblick, seine Erdhülle erfuhr diesen durch ihn. Sie beschützte und wärmte ihn, er bot ihr Halt. Die Luft war ständige Freundin und brachte Kunde von fernen Gestaden. Meist lispelnd, gelegentlich ein wenig weinerlich oder heftig klagend, dann und wann angetrieben von Tosen und Brausen. Sie wirbelte Blätter und Samen auf, die, nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, auf der beständigen Gefährtin zur Ruhe kamen. Von diesen Fallresten nährten sich kleine Tiere, Pilze überwuchsen die toten Gehölze bis sie, zersetzt, wieder Erde waren. So vermehrte sich der Erdmantel und wuchs immer höher, vom glatten, weißen und harten Kern blieb Jahr um Jahr ein ganz klein weniger sichtbar.

Eines Tages hob im Inneren des Berges ein mächtiges Grollen an, ein Beben ging durch die Erde, der Stein vibrierte. Die Gefährtin hielt ihn sicher umschlungen, so geriet er nicht ins Wanken. Mächtig heiß wurde ihm, die Hitze drang durch all seine Poren und Kristalle, er meinte zu glühen, doch es war die Glut um ihn herum, die in mächtigem Strom den Berg hinab raste. Der Berg bebte, die Erde herum zerbarst, glühende Lava ergoss sich in ihre Spalten und überzog alles mit ihrer feurigen Masse. Die Luft schien zu zittern, auch sie wurde hitzig, wo sie mit der Glutmasse zusammentraf schienen tausende kleine Flammenzünglein die Luft zu verbrennen. Ein Sirren begleitete das planetare Aufbegehren, eine seltsame Musik der Ewigkeit.  Ein weiteres Grollen durchlief den Berg, der in etliche Teile zerbarst. Der Stein wurde durch die Luft geschleudert, seine erdige Hülle zurücklassend. Ein mächtiger Schmerz erfasste die beiden, Stein und Erde, denn nun erfuhren sie ihre Trennung. Erneut bewegte eine gewaltige Eruption das so verlassen liegen gebliebene Erdreich, und schleuderte es in alle Richtungen. Kleine Teile von ihr landeten auf ihrem Freund, dem Stein, ein wehmütiger Versuch der Wiedervereinigung, der größte Teil des Steines jedoch blieb nackt. In ungewohnter Position war er zu Liegen gekommen, in einem tiefen Tal, weit weg vom Muttergestein, ohne die so lange gewohnte Aussicht.

Zunächst galt es, sich selbst wieder zu spüren, sich ganz zu fühlen. Bisher war die Erde seine Grenze  gewesen, nun aber drangen unterschiedliche Elemente auf ihn ein. An manchen Stellen war es die vertraute lehmige Masse, an anderen klebte erkaltete Lava, einige Gesteinsbrocken lagerten auf seiner Breitseite, die jetzt zuoberst war. Unter ihm spürte er etwas Neues, Kühles, sich Bewegendes, das herumsäuselte und ihn kitzelte. Auch die Luft war wieder da, hier aber fühlte sie sich anders an, etwas wärmer, etwas sanfter, etwas träger. Sie kannte die Welt, von ihr wollte er erfahren, was dieses ungewohnte Säuseln unter ihm bedeutete. Die Luft wisperte: „Das ist das Wasser, es ist beinahe so viel herumgekommen wie ich, und manche Tiefen kennt nur dieses flüssige Element, aus ihnen dringt es hervor: aus den Schichten deiner Brüder und deiner Gefährtin, der Erde. Es formt dich sanft, macht dich geschmeidig, findet immer einen Weg. Durchtränkt es die Erde, können Samen, die in ihr schlummernd auf die wärmenden Strahlen der Sonne hoffen,  keimen. Aus ihnen wachsen zarte Geschöpfe, die sich bis zu mir emporarbeiten und weiter hinauf, durch mich hindurch. Aus manchen werden Bäume, die viele Jahre wachsen, das Wasser erhält sie alle am Leben. Andere dieser Pflanzenwesen verzweigen sich, kaum dass sie die Erdoberfläche durchstoßen haben und bedecken diese mit einem weit verwurzelten Geflecht. Sie sorgen dafür, dass die Erde nicht austrocknet und weitere Samen keimen und gedeihen können. In ihnen leben viele kleine Lebewesen, die beitragen, den ewigen Kreislauf der Natur aufrecht zu erhalten. Einige der Samen bergen eine duftende Botschaft in sich, die sie sorgsam behüten und hinauf in den Stängel tragen, der sich der Sonne entgegenreckt und eine Knospe bildet. Ist sie groß genug geworden, öffnet und entfaltet sie sich in alle Richtungen. In vielfältigen Farben erstrahlt dann die Wiese, die der Erde entwächst und sie schützend bedeckt. Der Blumen duftende Kelche verlocken fliegende Tiere, man nennt sie Bienen, Hummeln, Schmetterlinge, Libellen und unzählige mehr. Sie trinken den köstlichen Nektar, an ihre Körper heftet sich Blütenstaub, den sie als fliegende Helferinnen transportieren, um andere Blüten zu bestäuben, als Liebesboten der Pflanzenwelt. Diesem Liebesflug entstammende Kinder werden Früchte genannt. Manche von ihnen sind herrlich saftig und süß, andere bitter und giftig, in richtiger Dosis jedoch oft Heilmittel. Einige sind klein, andere groß, hart oder weich, viele sichern köstliche Nahrung für Tiere. Eines dieser selbstlaufenden Wesen ist anders, es kommt auf zwei Beinen. In Behältnissen sammeln sie die Früchte, manche davon lagern sie über den Winter ein, viele von ihnen, die sich so ganz anders benehmen als alle übrigen Lebewesen, ernährend.“

Der Stein hatte aufmerksam zugehört, nun wollte er wissen, wie so ein Zweibeiner beschaffen sei – war er hart und standhaft so wie er, oder weich und formbar wie seine ehemalige Gefährtin? War er leicht und beweglich wie seine Lehrmeisterin die Luft, oder hitzig wie das Element, das ihn hierher befördert hatte? Kroch er in alle Ritzen und nutzte er alle Wege, wie das neu erlebte Element Wasser, das ihn kühlte und schliff?

Die Luft antwortete: von allen hat er etwas, doch nicht immer gleich verteilt. Manche von ihnen sind hitzig und eruptiv, andere eher luftig und leicht unterwegs wie ich, manche sind schwer und beständig wie Mutter Erde, wieder andere sind flink und geschickt wie das Wasser. Bei vielen wechselt es, mal sind sie das eine, mal das andere.

Von so viel neuem Wissen war der Stein müde geworden, er wollte ruhen und fiel in einen langen traumlosen Schlaf. Als er erwachte, war um ihn eine prachtvolle Wiese erblüht, bunte Schmetterlinge und summende Bienen, sirrende Mücken und brummende Fliegen schwirrten umher. Seine Freundin die Luft war warm und schmeichelnd, selbst das Wasser war längst nicht mehr so kühl, aber auch nicht mehr so sanft. Es war recht angeschwollen und bewegte sich mit großer Eile unter ihm hinweg. Die Gefährtin von einst konnte er zwar fühlen an manchen Stellen, aber sehen konnte er kaum etwas von ihr, sie war bedeckt von allerlei Grün in unterschiedlichsten Schattierungen. Über sich erblickte er eine strahlende Sonne, sie hüllte alles in goldenes Licht und die Blüten der Wiese reckten sich gierig in ihre Richtung.

Der Stein staunte - wie war die Welt auf einmal farbig und lebendig geworden! Es dauerte nicht lange, da bewegte sich etwas auf ihn zu: Zwei klobige Ungetüme, die sich näherten. Aus ihnen heraus wuchsen zwei Stämme, ebenfalls beweglich, den Schritten der zwei Klumpen, die Erde und Wiese zerstampften, folgend. Er bemerkte je ein Gelenk, das diese Stämme sich biegen ließ, immer an derselben Stelle, nicht wie die Bäume und Pflanzenstängel ringsum, die sich an jeder Stelle ihres Körpers biegen konnten um dem Wind auszuweichen. Weiter oben wuchsen die beiden Stämme zusammen, grade verkehrt herum, als wären die Äste unten und der Stamm oben. Dieser dickere Teil des merkwürdigen Wesens, das sich unaufhörlich näherte, war biegsam, konnte sich seitlich, vorwärts aber auch rückwärts beugen, ja der Stamm war sogar ganz nach unten faltbar, parallel zu den beiden Stämmen. Eine haarige Kugel krönte dieses Konstrukt, oberhalb zweier beiderseits herauswachsender Wurzeln, ebenfalls durch 3 Gelenke in unterschiedliche Richtungen bewegbar. Je fünf winzige Verzweigungen an deren Enden ließen sich so geschickt biegen, dass sie Beeren und Früchte umfassen und von ihren Ästen reißen konnten. Der Stein gedachte der Luft: „Dies muss jenes zweibeinige Wesen sein, von dem ich erfuhr, bevor ich ermattet einschlief.“ Ein weiteres Geschöpf, dem ersten ähnlich, eilte diesem hinterher. Beide gaben eigenartige Geräusche von sich, keinen Vogel, kein Insekt hatte er je so tönen gehört.

Er selbst hatte nur eine tonlose Stimme, mit seiner Gefährtin der Erde, aber auch mit der Luft war er gewohnt, sich über das Fühlen zu verständigen. Auch konnte er nur bewegt werden, selbst kam er nicht von der Stelle. Deshalb war er ganz aufgeregt, als die beiden Zweibeiner immer näher kamen.

Bei ihm angelangt setzten sie sich auf seine breite Seite und er spürte eine ungekannte Last. Er konnte nicht mehr viel erkennen, aber es schien, als würden sie die gesammelten Früchte in die haarige Kugel ganz zuoberst ihres Körpers stecken und den Rest untereinander aufteilen.

Nach einer Weile ließ die Last nach, denn die beiden hatten sich wieder erhoben. Er spürte ein Streicheln auf seiner glatten Oberfläche, da war ihm ganz wohlig zumute. Er wurde hin und her bewegt, solange, bis seine Unterseite, die bisher im Wasser gelegen hatte, sich der Sonne zuwandte. Danach wurde ihm richtig schwindlig, denn einmal war die eine, dann wieder die andere Seite zuoberst - er wurde über die Wiese gerollt. Stämme wurden unter ihn geschoben, das Rollen wurde schneller, bald schwanden ihm die Sinne vor so viel Rotation.

In einer gänzlich ungewohnten Umgebung kam er wieder zu sich. Himmel und Sonne waren verschwunden, auch keine Wiese wuchs um ihn, und das Element Wasser wurde so reichlich über ihn geschüttet, dass die letzten Reste seiner Gefährtin von ihm geschwemmt wurden. Rundherum war es düster, doch bemerkte er eine Lichtquelle. Sie erinnerte ihn an den Beginn seiner Reise, denn sie strahlte ein wenig von der Hitze aus, die er von der gleißenden Lava  her kannte. Diese Flamme flackerte zwar, wurde kleiner und wieder größer, aber blieb am selben Ort.

Und dann durchfuhr ihn ein Schmerz. Und noch einer. Wieder schienen ihm fast die Sinne zu schwinden. Er widerstand dem Drang, ohnmächtig zu werden, diesmal wollte er bewusst erleben, was ihm geschah. In unregelmäßigen Abständen schlug es auf ihn ein, ein Schmerz, dann flog ein Teil von ihm ab. Die verkehrten Wurzeln des bewegten Stammes, der ihn von der Wiese geholt hielten mit ihren Verzweigungen zwei Eisen, mit dem einen hämmerten sie auf das andere - die Ursache seiner Schmerzen. Nach einer Weile hörte es auf, er spürte ein Schaben auf seinem verletzten Körper. Zu scharf für ein Streicheln, zu weich, um ihn zu brechen. So ging es eine ganze Weile und in ihm geschah etwas Merkwürdiges. Als käme er immer mehr zu sich, sein Empfinden wurde klarer, er begann, sich selbst zu erkennen, fühlte seine Kraft und nahm die neue Form wahr, als drücke sie aus, was er tief in seinem Innersten schon immer gespürt hatte. Er fühlte sich jung und schön, ein ungekanntes Gefühl durchströmte ihn, es machte ihn selbstbewusst und energiereich. Er bemerkte, dass die Farbe seiner Oberfläche intensiver geworden war und glänzte. Stolz stand er da, in diesem Raum, der ihn umgab. Ein tonloses Lied klang durch all seine Poren, ein neues Lied der Ewigkeit.

Etwas später wurde er von etwas sehr Weichem umhüllt und erneut bewegt, eine ganze Weile wurde er geschüttelt, gehoben und schließlich aufgestellt. Um ihn herum hörte er Stimmengewirr und Musik, die Hülle wurde herabgezogen. Über ihm wölbte sich der Himmel. Die Sonne bestrahlte ihn, sein Glanz blendete die ihn bewundernden zweibeinigen Wesen. Sie ließen die Enden ihre seitlichen Äste aufeinander klatschen, viele viele Male, was einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte. Er verstand es nicht ganz, doch fühlte er, dass sie sich mit ihm freuten. Und unter sich spürte er etwas lange Vermisstes, seine geliebte Gefährtin, sie trug ihn, und auf ihr wuchsen Gräser und Blumen. Erneut war er in seinem Element, schöner als je zuvor.

Noch heute steht er an dieser Stelle und viele Tausend Menschen sind bewundernd an ihm vorbeigezogen.